Brandtote am 2. Mai: Was geschah in Odessa? Protokoll einer Eskalation - WELT (2024)

Die Freitreppe des Gewerkschaftshauses von Odessa ist schwarz verkohlt und mit einer Ascheschicht überdeckt. Die Fenster im zentralen Teil dieses Palastes aus sowjetischer Zeit sind ausgebrannt. Blumen liegen jetzt hier, Kerzen brennen. Im Erdgeschoss hängen Streifen von geschmolzenem Kunststoff von der Decke und lassen erahnen, in welcher Hölle hier am 2. Mai 38 Menschen starben. Sie verbrannten, erstickten oder stürzten sich verzweifelt aus den Fenstern in den Tod. Insgesamt starben an diesem Tag in der ostukrainischen Stadt 46 Menschen.

Die schöne Stadt mit ihren Platanenalleen und den klassizistischen Gebäuden, in der sich jeder zuerst „Odessit“ und dann erst Ukrainer nennt, befindet sich seither in einer Art Schockstarre. So viele Menschen starben hier an einem einzigen Tag nicht mehr seit den Wirren des Bürgerkrieges nach 1918 und des Zweiten Weltkrieges.

Die Tragödie vom 2. Mai ist nicht nur eine Tragödie für Odessa, sondern für das gesamte Land. So, wie es die Schüsse der Scharfschützen auf dem Kiewer Maidan am 20. Februar waren, durch die mehr als 70 Menschen starben. Nun also die Brandopfer von Odessa. Wie bei den Morden auf dem Maidan ist nicht klar, wer verantwortlich für die Toten ist. Diese Ungewissheit verstärkt das Trauma einer ganzen Nation. Und sie vergrößert die Gräben zwischen den proukrainischen und den prorussischen Kräften.

Wenn Fiktion empfundene Wahrheit wird

Urteile sind schnell gefällt und werden politisch instrumentalisiert. Schon am Tag danach, als noch überhaupt nicht klar war, was genau geschehen ist, spricht das russische Fernsehen von einem Genozid im Südosten des Landes. Parallelen zum Zweiten Weltkrieg werden gezogen. Soziale Netzwerke sind voller Bilder von Leichen. Es sind grausame Fotos, wie das von einer Frau, die auf dem Rücken auf einem Tisch liegt. Sie sei schwanger gewesen und sei mit einem Kabel erdrosselt worden, wird behauptet. Später stellt sich heraus, dass die Frau 59 Jahre alt war und weder schwanger war noch erwürgt wurde.

Aber da ist es schon zu spät. Die Nachricht hat sich verselbstständigt, Fiktion ist zur empfundenen Wahrheit geworden. Von einem Massaker und von „kaltblütigen Hinrichtungen“ ist die Rede, von Giftgas, das im Gebäude versprüht worden sei. Proukrainische Odessiten sprechen von Provokationen des russischen Geheimdienstes.

Es ist wohl eher so, dass dieser Tag geprägt war von Chaos und Hass, dass die Gewalt immer mehr eskalierte und die Sicherheitskräfte nicht einschritten, bis die Tragödie ihren Lauf nahm.

Der 2. Mai ist ein trüber Tag in Odessa. Der Journalist Sergej Dibrow entfernt den Schutzhelm aus seinem Rucksack und ersetzt ihn durch einen Regenschirm. Er rechnet nicht mit Gewalt. Doch statt friedlicher Demonstrationen wird er acht Stunden lang Straßengefechte, Feuer und Sterbende filmen.

„Sie kommen!“

Der Student Andrej Gruschezki verstaut seine Eintrittskarte für das Fußballspiel zwischen Tschernomorez Odessa und Metallist Charkow, eine Sturmhaube und Lederhandschuhe in seinen Taschen. Er wird zum ersten Mal in seinem Leben einen Toten sehen, seinen erschossenen Freund. Und er wird nur noch über eines nachdenken: Rache.

Der Gärtner Alexander Gerassimow geht zur Arbeit, um den Stadtpark für den Tag des Sieges gegen das Nazi-Reich am 9. Mai vorzubereiten. Er wird später im brennenden Gewerkschaftshaus festsitzen, gerettet, aber verprügelt werden.

Der Student Gruschezki sieht jünger aus, als ihn seine 22 Jahre ausweisen: Sehr schmal, helles, kurz geschnittenes Haar, mageres Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen. Er ist im letzten Jahr seines Management-Studiums. Seit seinem 13. Lebensjahr ist er im Fanblock der Ultras von Tschernomorez Stammgast. Im Februar gründete er mit Gleichgesinnten eine Filiale der ultranationalistischen Organisation Rechter Sektor in Odessa.

Zwei Monate später trat er wieder aus. Aber seine Sturmhaube in den Farben des Rechten Sektors, Rot und Schwarz, die hat er behalten. Am 2. Mai steht er am Sobornaja-Platz in Odessa mit anderen Fußballfans. Jeans, T-Shirt, der blau-schwarze Schal von Tschernomorez. Die Fans wollen mit ukrainischen Fahnen zum Stadion marschieren. Seit Monaten gibt es solche gemeinsamen Märsche. Um 15.45 Uhr soll es vom Sobornaja-Platz losgehen. Doch so weit kommt es gar nicht. Eine Menschenmenge stellt sich ihnen in den Weg und ruft: „Sie kommen!“

„Irgendwie versuchen, die Gewalt zu verhindern“

Vitali Switschinski hat kein gutes Gefühl an diesem Tag. Der 27-Jährige ist Besitzer eines Cafés und leitet die Gruppe Samooborona der Selbstverteidigung vom Maidan. Seine 150 Leute sind mit Knüppeln und Schutzschilden bewaffnet, sie tragen Helme und singen die ukrainische Hymne. Aber Switschinski weiß, dass es möglich ist, Gewalt zu verhindern. Deshalb hat er sich regelmäßig mit seinem größten Gegner getroffen, um sich mit ihm abzusprechen.

Sein Gegner ist Ex-Polizist Sergej Dolschenkow. Er leitet die prorussische Volksmiliz von Odessa, militanter Zweig der nationalistischen Organisation Slawische Einheit. „Eine Woche vor dem Marsch der Fußballfans haben wir uns getroffen und einander versprochen, dass es keine Gewalt geben werde“, sagt Switschinksi. „Aber drei Tage vor den Ereignissen war er nicht mehr auffindbar, nahm den Hörer nicht mehr ab.“ In den sozialen Netzwerken häufen sich Aufrufe, mit Gewalt gegen die proukrainische Demonstration vorzugehen.

Rund 200 maskierte Männer der Volksmiliz von Odessa tauchen am Sobornaja-Platz auf. Die Wortgefechte mit den Ultra-Fans sind kurz, sofort fliegen Steine und selbst gebaute Granaten mit Metallschrott. Vitali Switschinski stellt seine Leute als Schutzschild vor die proukrainischen Demonstranten. „Wir stellten die Schilde nach vorne und versteckten uns dahinter“, erinnert er sich. Dann zieht auch die Polizei ihre Kette zwischen den Fronten.

Polizist Jewgeni Umrichin berichtet: „Wir hatten weder Befehl, die Leute festzunehmen, noch einen Schießbefehl. Aber wir mussten irgendwie versuchen, die Gewalt zu verhindern.“ Die Polizisten bilden eine Kette zwischen prorussischen und proukrainischen Demonstranten, aber sie sind zu wenige. Die meisten Polizisten der Stadt und viele Krankenwagen stehen in diesem Moment neben dem Fußballstadion. Umrichin hört plötzlich eine Explosion, ganz nah. Dann kommt ein Stoß. Eine selbst gemachte Granate hat ihn verletzt. Er trägt eine schusssichere Weste, doch sie schützt ihn nicht. Seinen 33. Geburtstag feiert er drei Tage später auf der Intensivstation.

Die Schlacht dauert Stunden

Beide Seiten bekommen Verstärkung, plötzlich wird geschossen. Auf mehreren Bildern und Videos taucht ein dicker Mann mit Maske und Helm auf. Er schießt mit einen Jagdkarabiner mehrmals auf die Fußballfans. Andere Sequenzen zeigen ihn, wie er Polizisten in den Rücken schießt. Festgenommen wird er im Chaos nicht. Der Journalist Sergej Dibrow filmt den Mann. „Das ist ein Einwohner von Odessa“, sagt er. „Er wurde schon oft im prorussischen Lager mit seinem Karabiner gesehen.“

Der Kampf dauert Stunden. Vier Fußballfans werden getötet. Tschernomorez-Fan Andrej Gruschezki sieht, wie einer seiner Freunde nach einem Lungenschuss tot auf den Asphalt sinkt. Die Wut kocht hoch. Ein paar Tausend Fans wollen das prorussische Zeltlager zerstören, das seit Wochen auf dem Platz Kulikowo Polje steht.

„Wir liefen und riefen nur ein Wort: ‚Rache‘“, erinnert sich Gruschezki. Eine Dreiviertelstunde später erreicht die wütende Menge den Platz Kulikowo Polje. Die ganze Stadt weiß davon, und regionale Fernsehsender berichten darüber. Aber als die aufgebrachte Menge auf ihre prorussischen Gegner trifft, sind weder Polizei noch Feuerwehr oder Krankenwagen da.

Der 35-jährige Gärtner Alexander Gerassimow arbeitet im Stadtpark, als er von den Kämpfen im Stadtzentrum hört. Er ist ein Gegner der Regierung in Kiew, weil dort Oligarchen und Nationalisten an die Macht gekommen seien. Nach der Arbeit fährt er neugierig zum Zeltlager. Dort herrscht Chaos. Jemand sagt, man müsse Barrikaden bauen. Eine kleine Gruppe von der Volksmiliz kommt von der Schlacht im Stadtzentrum zurück. Und dann schreit jemand: „Sie kommen!“

Es gibt keinen Anführer auf dem Platz, aber der Kommunist Alexej Albu ist so etwas wie der politische Kopf. Der Mann mit dem runden Gesicht trägt einen Verband quer über den Kopf. Er kommt zum Zeltlager, als klar wird, dass die Gewalt auch dort bald eskaliert. Spontan wird beschlossen, im Haus der Gewerkschaften Schutz zu suchen. „Wir wollten uns verstecken und wussten nicht, dass man uns hier tötet“, sagt Albu.

Feuerwehr kommt 40 Minuten zu spät

Die Zelte gehen in Flammen auf. Dann beginnt die Schlacht. Vom Dach des Gewerkschaftshauses fliegen Steine und Molotowco*cktails herab, von der Straße kommt beides zurück. Gärtner Gerassimow schleppt Möbel aus den Büros nach unten, um Barrikaden zu bauen. Albu beobachtet, wie im Erdgeschoss ein Brandsatz durch ein Fenster fliegt.

Der Vorhang fängt Feuer, kann aber gelöscht werden. Die Gänge sind voller Rauch. Albu läuft mit einer Gruppe in einen Seitenflügel. Eine Frau kommt ihm entgegen, in der Hand einen Schutzhelm voll Wasser, das es nur in den Toiletten gibt. Ein paar Feuerlöscher werden eingesetzt, aber es reicht nicht. Panik bricht aus.

Das Haus fängt an mehreren Stellen gleichzeitig Feuer. Der Haupteingang brennt und wird mit Molotows beworfen. Kommunist Albu rettet sich mit seiner Gruppe in einen Seitenflügel, der nicht brennt. Gärtner Gerassimow entscheidet sich anders: Er will aufs Dach und läuft die Treppe im zentralen Gebäudeteil hoch. Im obersten Stockwerk findet er die Tür, die auf das Dach führt, doch er kann sie nicht öffnen.

Er verliert das Bewusstsein. Proukrainische Demonstranten versuchen, die Menschen aus dem brennenden Gewerkschaftshaus zu retten. Das Gestell einer Bühne dient als Fluchtleiter. Endlich kommt die Polizei und dann auch die Feuerwehr. 40 Minuten zu spät.

„Sollen wir ihn aus dem Fenster werfen?“

Fußballfan Andrej Gruschezki sagt, er habe keinen Brandsatz geworfen. Er sei zum Hintereingang gelaufen und habe versucht, die Tür aufzubrechen. Als das Haus brennt, will er die Frauen retten. Hier treffen sich Gruschezki und Albu. Der Kommunist läuft durch die Gänge, als er hört, dass jemand schreit: „Habt keine Angst. Wir sind Odessiten. Wir lassen eure Frauen raus.“

Aber Albu hat Angst. Er läuft in die andere Richtung und rettet sich aus einem Fenster in den Innenhof. Hier steht die Polizei und bildet einen Korridor. Es stehen dort aber auch wütende Männer, die ihn schlagen wollen. Albu kriecht zwischen den Beinen der Polizisten hindurch und läuft weg. Dann schreit jemand: „Schaut, das ist der Kommunist Albu.“ Er wird mit Schlagstöcken verprügelt. Die Polizei kämpft ihn frei.

Student Andrej Gruschezki hat ihn nicht geschlagen. Aber er hat auch kein Mitleid: „Ich glaubte, er sei an allem schuld, weil er den Leuten gesagt hat, sie sollen sich im Gewerkschaftshaus verstecken. Heute sehe ich das anders. Aber vor Ort – ich hätte ihn nicht gerettet.“

Plünderer finden den Gärtner Gerassimow im obersten Stockwerk. Er hat Verbrennungen, aber er lebt. Sie wecken ihn auf. Die Plünderer stehlen ihm die Tasche und zwei Mobiltelefone. „Sollen wir ihn aus dem Fenster werfen?“, fragt einer. „Nein“, sagt ein anderer. Sie tragen ihn eine Etage weiter runter, wo er kurz darauf von Ärzten gefunden und versorgt wird. Als er wieder laufen kann, will er nach draußen. Doch dort bekommt er noch einige harte Schläge ab, kurz vor Mitternacht ist er im Krankenhaus.

Nach Donezk fahren, für die Ukraine kämpfen

„Die Teufel sollen in der Hölle brennen“, schreibt die nationalistische Abgeordnete Irina Farion am Abend der Katastrophe bei Facebook. Aber schon am nächsten Tag setzen sich andere Stimmen und Bilder durch. Vitali Klitschko spendet Blut in Odessa; Präsidentschaftskandidat Petro Poroschenko sagt Ermittlungen zu, die tatsächlich eingeleitet werden und hoffentlich zu einem befriedigenden Ergebnis führen. Was aber nicht vergehen wird, sind der Schock und die Bestürzung darüber, zu welchen Gewaltexzessen die Bewohner dieser Stadt fähig gewesen sind.

Fußballfan Gruschezki will nach Donezk fahren, um gegen die prorussischen Rebellen und für die Ukraine zu kämpfen. Und der Kommunist Albu will die neuen Zelte der prorussischen Aktivisten auf dem Platz vor dem abgebrannten Gewerkschaftshaus aufstellen. Vielleicht in der Hoffnung, dass man sich der Tragödie des 2. Mais erinnern und ihn und seine Genossen verschonen möge.

Brandtote am 2. Mai: Was geschah in Odessa? Protokoll einer Eskalation - WELT (2024)
Top Articles
LOOK: Can You Guess Which Icon's Son This Is?
Jane Powell, MGM musical star of 'Seven Brides for Seven Brothers,' 'Royal Wedding,' dead at 92
Craigslist Livingston Montana
11 beste sites voor Word-labelsjablonen (2024) [GRATIS]
Express Pay Cspire
No Hard Feelings Showtimes Near Metropolitan Fiesta 5 Theatre
Srtc Tifton Ga
Printable Whoville Houses Clipart
Chicago Neighborhoods: Lincoln Square & Ravenswood - Chicago Moms
Myexperience Login Northwell
Repentance (2 Corinthians 7:10) – West Palm Beach church of Christ
Unity Stuck Reload Script Assemblies
Algebra Calculator Mathway
Western Union Mexico Rate
Midflorida Overnight Payoff Address
Fully Enclosed IP20 Interface Modules To Ensure Safety In Industrial Environment
What is IXL and How Does it Work?
Culvers Tartar Sauce
Persona 4 Golden Taotie Fusion Calculator
About Us | TQL Careers
2016 Ford Fusion Belt Diagram
Crossword Nexus Solver
Walmart Double Point Days 2022
What Happened To Anna Citron Lansky
Carolina Aguilar Facebook
Cyndaquil Gen 4 Learnset
Locate At&T Store Near Me
Xomissmandi
Lonesome Valley Barber
Melissababy
Https Paperlesspay Talx Com Boydgaming
Www Craigslist Madison Wi
Www Va Lottery Com Result
Sand Dollar Restaurant Anna Maria Island
Spectrum Outage in Queens, New York
Dhs Clio Rd Flint Mi Phone Number
Speechwire Login
417-990-0201
Have you seen this child? Caroline Victoria Teague
Gas Prices In Henderson Kentucky
About Us | SEIL
Gets Less Antsy Crossword Clue
Daily Times-Advocate from Escondido, California
877-292-0545
2023 Fantasy Football Draft Guide: Rankings, cheat sheets and analysis
'The Night Agent' Star Luciane Buchanan's Dating Life Is a Mystery
[Teen Titans] Starfire In Heat - Chapter 1 - Umbrelloid - Teen Titans
Best Conjuration Spell In Skyrim
VerTRIO Comfort MHR 1800 - 3 Standen Elektrische Kachel - Hoog Capaciteit Carbon... | bol
Air Sculpt Houston
Image Mate Orange County
Acellus Grading Scale
Latest Posts
Article information

Author: Prof. Nancy Dach

Last Updated:

Views: 5259

Rating: 4.7 / 5 (57 voted)

Reviews: 80% of readers found this page helpful

Author information

Name: Prof. Nancy Dach

Birthday: 1993-08-23

Address: 569 Waelchi Ports, South Blainebury, LA 11589

Phone: +9958996486049

Job: Sales Manager

Hobby: Web surfing, Scuba diving, Mountaineering, Writing, Sailing, Dance, Blacksmithing

Introduction: My name is Prof. Nancy Dach, I am a lively, joyous, courageous, lovely, tender, charming, open person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.